„Down the Road“: Eine Betrachtung

Im Oktober 2022 hat der SWR „Down the Road“ ausgestrahlt, eine sechsteilige Doku-Serie, in der sieben Menschen mit Down-Syndrom sowie der für diese Serie als Reiseleiter fungierende Schlagersänger Ross Antony für zwölf Tage auf einer abenteuerlichen Reise durchs SWR-Sendegebiet von einem Kamerateam begleitet werden. Näher auf den Inhalt möchte ich nicht mehr eingehen; hier habe ich die Serie bereits vorgestellt, und in der ARD-Mediathek könnt ihr sie euch ansehen.

In diesem Blogbeitrag möchte ich „Down the Road“ genauer und vor allem auch kritisch unter die Lupe nehmen. Bevor ich damit anfange, ein paar wichtige Hinweise:

  1. Das hier wird länger
  2. Es wird gespoilert
  3. Die im Folgenden geschilderten Eindrücke sind meine persönlichen und daher subjektiv. Das gilt auch für Schlussfolgerungen und, logischerweise, für Meinung und Fazit
  4. Im Beitrag schreibe ich im generischen Femininum, männlich gelesene Personen sind stets mitgemeint

Ich mache es kurz und werde dann länger, deshalb einfach gleich zu meinem persönlichen

Fazit

Von der ersten Folge bis heute bin ich unschlüssig, was ich von „Down the Road“ halten soll.

Denn: Auf der einen Seite finde ich es prinzipiell gut, Menschen mit Behinderung in die Öffentlichkeit zu bringen, ganz egal, ob körperliche oder geistige Behinderung oder auch beides. Denn besonders unsere auf Perfektion bedachte Werbelandschaft kann unperfekte Menschen, zu denen wir ja ehrlicherweise alle gehören, Menschen mit Behinderung laut landläufiger Meinung aber noch ein bisschen mehr, überhaupt nicht leiden.
Doch auch Medien klammern Menschen mit Behinderung meist ziemlich erfolgreich aus oder behandeln sie zumindest eher als eine Besonderheit, anstatt sie in Filmen, Serien, Büchern oder TV-Shows als ganz normalen Teil des ganz normalen Lebens zu zeigen.

Aus diesen Gründen bin ich mitnichten die einzige, die über die meisten Arten von Aufmerksamkeit für Menschen mit Behinderung froh ist.

Auf der anderen Seite stehe ich „Down the Road“ in einigen Dingen kritisch gegenüber. Das beginnt bei der Art des Formats und dessen Umsetzung, zieht sich durch sehr viele Szenen in den einzelnen Folgen und landet bei übergeordneten Aspekten wie die Rezeption von Zuschauerinnen, die keinen Bezug zu Menschen mit Behinderung haben.

Einige Kritikpunkte werden in Folge aufgelistet und weiter unten wird näher darauf eingegangen – auch mit Antworten vom SWR, der so zuvorkommend war, mir ein Gespräch mit zwei Mitarbeiterinnen zu ermöglichen.

Bild: SWR/SEO Entertainment

Am kritischsten sehe ich die folgenden Punkte:

  • Einige Szenen erscheinen mir gescriptet oder zumindest so, als ob die Protagonistinnen in ihrem Handeln und ihren Antworten beeinflusst beziehungsweise gelenkt wurden
  • Andere Szenen erscheinen mir nicht unbedingt gescriptet, aber in ihrer Glaubwürdigkeit zweifelhaft
  • Zudem erscheinen mir einige Szenen unnötig aufgebauscht oder dramatisiert, wobei das meiner Meinung nach gar nicht nötig wäre – „Down the Road“ wäre auch ohne Drama unterhaltsam und würde auch ohne Drama genügend Authentisches sowie Einblicke in die Gedanken- und Seelenwelt der Protagonistinnen bieten
  • Die Protagonistinnen sind alle volljährig, einige über 30 Jahre alt, dennoch gibt es Szenen in „Down the Road“, in denen sie von den Reisebegleiterinnen wie Kinder angesprochen beziehungsweise behandelt werden („Meine Kinder“, ein scheinbar Trost spendendes Haarewuscheln)
  • Es entsteht der Eindruck, dass Protagonistinnen während der Reise dazu überredet wurden, Dinge durchzuziehen, die sie gar nicht durchziehen möchten, und auch der Eindruck, dass Bedürfnisse von Teilnehmerinnen übergangen werden – ganz besonders in Folge 4

Vor allem Unterhaltung

Das eine oder andere relativiert sich vielleicht ein bisschen, wenn man sich die Frage stellt, was man von „Down the Road“ persönlich erwartet und wenn man sich vor Augen hält, was diese Serie genau ist. Denn auch wenn der SWR das „Doku-“ gerne vor die „Serie“ setzt, ist „Down the Road“ vor allem Unterhaltung. Tja, wer hätte das gedacht bei einem Format fürs Fernsehen?

Das Dokumentarische entsteht dadurch, dass die Teilnehmerinnen auf ihrer zwölftägigen Reise mit Kameras gefilmt werden und offiziell in keiner einzigen Szene gelenkt oder beeinflusst werden. Das könnte man genauso gut mit sechs (oder sieben) Menschen machen, deren Gemeinsamkeit es ist, dass alle blonde Haare haben oder alle von Beruf Orgelbauerinnen sind, aber dann wäre es für die meisten Zuschauer entweder nur halb so spannend oder vielleicht umso lustiger, weil irgendwie trashig.
Aber nein, es geht um Menschen mit Down-Syndrom, und hier merken wir schon: Das muss etwas Besonderes sein, denn die sind irgendwie anders.

Mit und über

„Down the Road“ wurde ursprünglich in Belgien entwickelt und scheint dort so erfolgreich zu sein, dass es mittlerweile mehrere Staffeln gibt. Der SWR hat das Format adaptiert. In der offiziellen Pressemitteilung des SWR wird „Down the Road“ als „Coming of Age“-Format bezeichnet, als „außergewöhnlicher Roadtrip“, und:

„‚Down The Road‘ ist als Sendung für die ganze Familie angelegt. Es ist keine Doku über Menschen mit Down-Syndrom, sondern eine Doku mit Menschen mit Down-Syndrom. Es entsteht Authentisches, Emotionales, Respektvolles und Überraschendes.“

Aber aufgepasst, „mit Menschen mit Down-Syndrom“ bedeutet nicht, dass Menschen mit DS bei der Ausarbeitung der deutschen Adaption mitgearbeitet haben.
In unserem Telefonat sagt Susanne Winter (SWR HA Programm-Management): „Die Definitionen ‚mit‘ und ‚über‘ beziehen sich nicht auf die Konzeption der Doku-Serie, sondern darauf, dass die Menschen mit Down-Syndrom eben hier ihre eigenen Geschichte erzählen können.“

Auch hätten die gecasteten Teilnehmerinnen die Reise nicht komplett mitgestaltet. „Wir haben uns vorher schon Gedanken gemacht, was Ablauf und Reiseroute angeht, aber es sind auch Interessen und Wünsche eingeflossen. Aber man hat sich nicht vorab zusammengesetzt und die Reise gemeinsam entworfen“, sagt SWR-Redakteur Christopher Hiepe.

Man sollte also dieses „mit“ nicht zu wörtlich nehmen, wobei ich den Gedanken, dass ein Format mit Menschen mit DS auch von Menschen mit DS entwickelt wird, einen sehr schönen finde. Vielleicht ja eine Idee für die Zukunft.

Hier ein paar Beispiele, die bei mir beim Ansehen den Eindruck von gescripteten oder zumindest beeinflussten Szenen hinterließen:

In der ersten Folge fragt Reiseleiter Ross Antony im Zelt, das er sich mit den drei anderen Männern teilt, für die Zuschauer völlig unvermittelt: „Unter uns, Jungs, wie findet ihr die Mädels?“ Im Folgenden sprechen die Vier über eben jene „Mädels“ (die Frauen im anderen Zelt) und über Emotionen. Dass Protagonist Julius sich sogleich als homosexuell outet, kommt für alle im Zelt und für alle vor dem Fernseher selbstverständlich völlig unerwartet, gleichzeitig ist es völlig logisch, dass dieses Outing nur jetzt kommen kann und nicht erst in Folge fünf, denn sonst ist alles nur halb so spannend.

Über Kriterien beim Casting sagt der SWR im Telefongespräch:

„Weder Aussehen noch sexuelle Orientierung haben eine Rolle gespielt, sondern, was kann der eine z. B. von dem anderen lernen, wenn es um Selbstständigkeit geht. […] Und der regionale Bezug, also aus dem SWR-Sendegebiet Rheinland-Pfalz und Baden-Württemberg. Die körperliche Fitness war ein Thema und […] verschiedene Interessen und verschiedene Hobbys.“

Susanne Winter, HA Programm-Management


Rein zufälligerweise zeitgleich wird im Frauenzelt über Beziehungen gesprochen, ebenfalls angeleitet durch die Fragen „Hat(te) denn irgendeine von euch schon nen Freund?“ von Sozialpädagogin Nicole Erhardt.

Ebenfalls in der ersten Folge findet sich bereits ein Liebespaar.
Ich möchte dem Pärchen sicherlich keine Gefühle absprechen, vielleicht hat es tatsächlich von Anfang an zwischen den beiden geknistert. Jedoch geht es von „Wir kennen uns alle nicht“ über einmal Händchen halten bis hin zum ersten Kuss des Paars zumindest für die Zuschauerinnen unglaublich schnell, was das Gefühl aufkommen lässt, dass das alles kein Zufall sein kann.

Ebenfalls in Folge 1 bauen die Teilnehmerinnen gemeinsam ein Floß – eine starke Leistung. Auf der anschließenden Floßfahrt fällt Protagonistin Rosalie ins Wasser, und bitte, schaut euch die Szene selbst an und entscheidet auf einer Skala von 0 bis 10, wie glaubwürdig dieser Unfall aussieht.

Zu diesen und weiteren Szenen, die mir persönlich einfach als zu zufällig oder zu unglaubwürdig erscheinen, um spontan zu sein, heißt es im Telefongespräch:

„Es ist ein rein dokumentarisches Format. Es wurden keine Szenen gescriptet. […] Die Teilnehmer wurden in ihrem Handeln und in den Themen, die für sie wichtig sind, nicht gelenkt. Das wäre auch gegen unsere journalistische Sorgfaltspflicht.“

Susanne Winter

„Das einzige [Vorgegebene] war die Reiseroute, und alles, was da passiert ist, war letztlich auch für uns überraschend. Ich glaube auch, dass Menschen mit Down-Syndrom nicht das machen, was ihnen irgendwie vorgegeben wird. Aber es war ja auch überhaupt nicht das, was wir machen wollten. Es ist rein dokumentarisch.“

Christopher Hiepe, Redakteur

Es bedarf gar nicht mal so viel Recherche, um herauszufinden, dass zumindest vier der sieben Teilnehmerinnen bereits Erfahrung mit dem Umgang von Foto-/Fernsehkameras haben – als Künstlerin, Fotomodel oder Protagonistin in Videostatements, Zeitungs-, Magazin- und TV-Beiträgen, ja, auch in Beiträgen vom SWR. Eine Protagonistin spielt sogar im Theater.
Wenigstens die Hälfte der „Down the Road“-Protagonistinnen weiß also zumindest ungefähr, wie „das mit den Medien“ so läuft.

Das soll nicht heißen, dass alle Sieben perfekte Schauspieler sind. Im Umkehrschluss sind Menschen mit Down-Syndrom jedoch durchaus in der Lage, etwas auszuführen, was ihnen vorgegeben wird – und vielleicht sogar umso „authentischer“, wenn es keine direkte Anweisung ist, sondern eine geschickt platzierte Aussage oder Frage.

Daneben gibt es Szenen, die zwar nicht gescriptet, dafür aber seltsam unglaubwürdig erscheinen. So erzählt die 19-jährige Rosalie, während die gesamte Gruppe in einem Schuhgeschäft ist, dass sie keine Schnürsenkel binden kann. Die eine oder andere aufmerksame Zuschauerin mag sich fragen, warum sie dann in so mancher Folge Schnürschuhe trägt, aber es gibt ja auch Schnürschuhe, die man gar nicht binden muss. Ungeachtet dessen beschließt Ross Antony, Rosalie zu zeigen, wie man Schnürsenkel bindet.
Wie oft er ihr das zeigt, bleibt den Zuschauerinnen verborgen – die sehen es nur einmal, und TADAA, schon kann Rosalie Schnürsenkel binden, zwar noch mit Mühe, aber es klappt, Ross Antony sei Dank!

In einer anderen Folge zeigt der Reiseleiter Patrick, wie er sich den Bart per Nassrasur entfernen kann, denn das kann der 30-Jährige nicht beziehungsweise traut sich nicht. Auch er scheint sein ganzes Erwachsenenleben darauf gewartet haben zu müssen, bis Ross Antony in sein Leben tritt und ihm zeigt, wie das mit der Nassrasur funktioniert.

Hier kommen Fragen auf

Diese Szenen lassen bei den Zuschauerinnen Fragen aufkommen.
Zum Beispiel, ob die Familien der beiden ihnen wirklich nie gezeigt haben, wie man Schnürsenkel bindet oder sich den Bart per Nassrasur entfernt.
Oder, wenn sie es ihnen gezeigt haben – wovon ja doch sehr stark auszugehen ist -, weshalb es dann nie geklappt hat.
Ob solche Schlussfolgerungen dann nicht ein schlechtes Licht auf die Familien werfen.
Oder ob Schuhe mit Klettverschluss und ein elektrischer Trockenrasierapparat vielleicht auch die einfacheren und nervenschonenderen Lösungen in der jeweiligen Familie waren und sind.

Gleichzeitig lassen diese Szenen Ross Antony in einem Licht erstrahlen, als wäre er der Held der Stunde, der den Protagonistinnen solche Dinge mit einem kleinen Augenzwinkern und innerhalb von wenigen Minuten beibringt (oder im Falle der Nassrasur zumindest zeigt) – Dinge, an denen in der Vergangenheit alle anderen Menschen offenbar gescheitert waren.

Beinahe schon manipulativ erscheinen in diesem Zusammenhang auch Aussagen wie „Willst du [Schnürsenkel binden] probieren für mich?“, oder in einer späteren Folge „Du machst das [Gleitschirmfliegen] für mich? Und für Yannis? Ja?“
Ich persönlich habe einst gelernt, dass man so nicht formulieren soll, eben weil das eine manipulative, unter Druck setzende Wirkung haben kann: „Bitte tu es für mich (denn wenn du es nicht tust, bin ich traurig/böse/whatever, und du willst doch nicht, dass ich das bin, und enttäuschen willst du mich auch nicht).“ Dies ist insbesondere nicht zu unterschätzen, wenn die Manipulatorin um ihren Wert bei der anderen weiß – so wie Ross Antony, der genau weiß, dass Rosalie ihn toll findet.


Bild: SWR

„Alle feuern dich an“

Stoisches Weiterfilmen von Kameras, obwohl oder gerade weil es Protagonistinnen in diesem Moment nicht gut geht, oder dramatische Cliffhanger kennt man eher von Privatfernsehsendern, in einer Doku-Serie eines öffentlich-rechtlichen Fernsehsenders lassen sie die Zuschauerin recht irritiert zurück.
Am Ende der zweiten Folge haben wir beides, als die Abenteurer an Ziplines durch die Bäume rauschen: Teilnehmerin Angela hat Angst, das zeigt sich sehr deutlich in ihrer Körpersprache, sie zittert, sagt „Mami, Mami!“, sie kreischt unartikuliert, weint – und die Kameras halten drauf, unnötig lang.
„Hörst du, alle feuern dich an“, bemerkt die Sozialpädagogin, da tatsächlich fast alle, die bereits eine Zipline-Station weiter sind, „An-ge-la, An-ge-la“, skandieren.
Ja, sie darf dann eine Pause machen. Der Sprechchor geht, zu einem Chormitglied geschrumpft, weiter. Ross Antony ruft „Angela, ich bin bei dir“, Angela wimmert – und wird zum menschlichen Cliffhanger, hier endet die Folge.

Folge 3 beginnt übrigens mit genau denselben Schnittbildern. Während die anderen sie ermutigen, sagt Angela in Tränen aufgelöst „Ich kann das nicht“. Schlussendlich fährt sie die kurze Zipline, ist im Nachhinein unglaublich stolz darauf, dass sie sich überwinden konnte, und geht dann gemeinsam mit zwei anderen zu Fuß ins Tal.

Vielleicht merkt man schon an meiner Beschreibung dieser Szenen, warum ich hier Bauchschmerzen habe. Vielleicht hätte auch eine Kameraeinstellung gereicht anstatt drei oder vier, und zwischen Ermutigung und Überredung liegt halt oft ein sehr, sehr schmaler Grad.

Zugute halten muss man hier, dass Protagonistin Angela sich offiziell gewünscht hat, durch die Teilnahme an „Down the Road“ mutiger und selbstsicherer zu werden. Und:

„Das hat man ja auch gemerkt bei Angela, dass sie eigentlich ja wollte, aber in der Situation mit sich gekämpft hat. Es gab immer die Möglichkeit zu entscheiden, mach ich das oder mach ich es nicht.“

Christopher Hiepe

„Wir können versichern, es wurde niemand überredet, sondern wenn, dann zum jeweils selbst gesetzten Ziel motiviert. Angela hatte jederzeit die Möglichkeit, wieder herunterzuklettern.“

Susanne Winter

Bild: SWR/SEO Entertainment

Folge 4

Momente, in den sich die geneigte Zuschauerin nicht ganz sicher ist, ob es Ermutigung oder Überredung ist, finden sich besonders in Folge 4 wieder. Ohne allzu sehr ins Detail zu gehen scheint es – bitte als leicht ironische Stimme aus dem Off vorstellen – einfach nicht Julius‘ Tag zu sein.

Generell bekommt man bei „Down the Road“ den Eindruck, dass die zwölf Reisetage für Julius ein zweischneidiges Schwert sind: Zum einen viele schöne Erlebnisse, zum anderen persönliche Bedürfnisse, auf die nicht so wirklich eingegangen wird.
In beinahe jeder Folge sagt er, dass er gerne einmal durchschlafen möchte, dass er Zeit für sich allein braucht, dass er auftanken möchte. Im Kopf kommt an: Das bekommt er nicht.

Man sieht ihn immer wieder weinen, und ja, ein Reality-Format wie „Down the Road“ wäre ohne Tränen wahrscheinlich kein Reality-Format, zumal es Julius im Nachhinein immer gut zu gehen schien.
In Folge 3/hauptsächlich 4 scheint sich die Lage über den Tag hinweg allerdings zuzuspitzen.
In der Fußgängerzone Baden-Badens filmt das Kamerateam die sich sehr zufälligerweise spontan gebildete Dreieckskonstellation Rosalie-Patrick-Giuliana (ich verzichte hier auf weiteres Spoilern, möchte allerdings darauf hinweisen, dass auch diese Szenen in mir das Gefühl „Gescriptet“ hinterlassen haben), während man gleichzeitig in einigen Einstellungen jemanden neben den weiteren Protagonistinnen mit hochgelagerten Beinen auf einer Bank liegen und von einer Sanitäterin versorgt werden sieht, den man durch das Ausschlussverfahren als Julius identifizieren kann.

Was genau da passiert war, weiß man beim SWR nicht:

„Ich weiß davon nichts, dass es einen Vorfall gab, das hätte uns die Produktionsfirma ja mitgeteilt, wenn da etwas gewesen wäre. Es kann sein, dass das in den Pausen war, wo er auch gesagt hat, er will nicht gefilmt werden.“

Susanne Winter

In derselben Folge passiert einiges, das mir persönlich sauer aufstößt und bei mir den Eindruck hinterlässt, dass hier Reiseteilnehmerinnen (mehrmals) zu Dingen überredet werden, obwohl sie gesagt hatten, dass sie diese nicht tun möchten beziehungsweise schlafen gehen möchten.

Hier kommt vielleicht ein bisschen der Zwiespalt ins Spiel, dass man ja auf der einen Seite Menschen mit Behinderung durchaus ihre Wünsche und Bedürfnisse zugestehen möchte, aber dass auf der anderen Seite ein Format, das schon allein durch die Titel seiner Folgen mindestens einen boulevardesken Funken aufweist („Glamour und Tränen“, „Gefühlschaos“), nicht richtig funktioniert, wenn die Protagonistinnen beispielsweise alle abends um 21 Uhr im Bett liegen.

Julius selbst sagt in seinem Einzelinterview nach diesem Tag:

„Das war für mich zu viel, da war ein bisschen… Druck. Da war [ich] ein bisschen… […] k.o. und müde. […] Ich brauch mal Zeit für mich allein. Damit ich das gut verarbeiten kann. Dass ich [alles] gut verkraften kann.”

Julius, Teilnehmer bei „Down the Road“

Der SWR versichert, dass bei „Down the Road“ niemand zu Dingen überredet wurde:

„Nie ist jemand überredet worden, man konnte immer sagen ‚Ich mach‘s‘ oder ‚Ich mach‘s nicht‘.“

Christopher Hiepe

„Julius wurde in keiner Situation überredet in dem Sinne ‚Du musst das jetzt mitmachen‘.“

Susanne Winter

Bild: SWR/SEO Entertainment

Wieviel Zeit jede Teilnehmerin für sich hatte und wie viele Pausen tatsächlich gemacht wurden zwischen den einzelnen Abenteuern, das erfährt die Zuschauerin nicht – was auch erklärbar ist, denn wenn im Schnitt zwei Tage zu einer 45-minütigen Folge zusammengeschnitten werden, kann natürlich nicht auch noch jede Pause darin vorkommen.
Was die Leute vorm Fernseher aber vielleicht gar nicht im Blick haben, sind die Fahrtzeiten von einer Location zur nächsten, die die acht Reiseteilnehmer alle gemeinsam in einem Bus verbringen – und die bis zu drei Stunden dauern.

Der SWR sagt zum Thema „Pausen“:

„Wir haben auch Rücksicht drauf genommen, wenn jemand gesagt hat ‚Ich brauch jetzt mal ne Pause‘. […] Die Tage waren nicht besonders lang. Da haben wir akribisch drauf geachtet, dass das ganz gut verteilt ist und dass da immer lange Pausen sind zwischen den einzelnen Aktionen.“

Christopher Hiepe

Hier ist dem SWR in der Bildunterschrift ein kleiner Fehler unterlaufen, dort steht: „v.l.n.r.: Yannis, Rosalie, Ross Antony, Angela, Giuliana, Julius, Jonas, Nicole.“, aber Julius heißt in Wahrheit Patrick.
Bild: SWR/Ben Pakalski

Zu Beginn von Folge 5 verlässt Julius dann die anderen auf seinen eigenen Wunsch hin und fährt nach Hause.

Für ihn kommt Yannis an Bord. Dieser, so wird es in der Folge erklärt, habe von Anfang an dabei sein sollen, sei aber krank geworden. Nun sei er wieder gesund und könne, wie geplant, an der Reise teilnehmen.
Wegen der Erkrankung sei einer der anderen männlichen Protagonisten zu Drehbeginn für Yannis nachgerückt, sagt der SWR, wer genau das war, spiele keine Rolle. Allerdings:

„Julius und Yannis waren beide von Anfang an eingeplant.“

Christopher Hiepe

Innerhalb von zwei Folgen verlieben sich zwei weitere Teilnehmerinnen ineinander, ein zweites Pärchen entsteht, und in der letzten Folge kommt – ein Heiratsantrag. Wer den macht, und wie die Adressatin reagiert, soll hier nicht verraten werden.

Wie es Julius nach seinem Reiseabbruch geht, erfährt die Zuschauerin nicht mehr. Er wird nicht mehr erwähnt, wobei ich persönlich es sehr schön gefunden hätte, wenn man ihn beispielsweise per Videocall noch einmal zu den anderen hinzugeschaltet hätte, etwa beim letzten gemeinsamen Abendessen. Zumal er offensichtlich nach Beenden der Reise gefragt (oder gebeten) wurde, noch einmal für sein Einzelinterview zurückzukommen.
So aber ist es eine „Aus den Augen, aus dem Sinn“-Sache, was bei einem Format, das sich durch Menschlichkeit und gemeinsame Augenhöhe auszeichnen möchte, durchaus schade ist.
Ross Antony bemerkt am Ende der letzten Folge, dass alle Reiseteilnehmerinnen durch die Erlebnisse der vergangenen Tage ein gutes Team geworden seien – auch hier wird Julius ausgeklammert, der doch immerhin in vier von sechs Folgen mit dabei war.

Bild: SWR/SEO Entertainment

Und nun?

Zu den einzelnen Folgen der deutschen „Down the Road“-Adaption könnte gewiss noch viel geschrieben werden, weitere Szenen könnten genauestens seziert, über einzelne Personen sinniert werden. Die Frage ist, ob das sinnvoll ist oder ob nicht irgendwann eher die Gefahr entsteht, sich an der Serie abzuarbeiten.

Am besten ist es, wie bei allem, wenn sich jeder seine eigene Meinung darüber bildet, in dem er oder sie sich diese „Coming of Age“-Serie selbst ansieht – vielleicht mit einem kritischen und einem unkritischen Auge.

Denn bevor nun Leute sagen „Jetzt hat sie die gesamte Serie zerfleischt und gönnt den Protagonistinnen nichts daran“ – das stimmt nicht.
Im Gegenteil: Ich gönne es den Sieben von Herzen, dass sie ein Teil dieser Reise sein konnten, denn wenn man etwas unkritischer zuschaut, ist „Down the Road“ zusammenfassend einfach für alle Teilnehmerinnen ein großes Abenteuer mit jeder Menge Spaß, an das sie sich alle bestimmt noch sehr lange erinnern werden.

Und: Wenn sich Menschen mit Normalsyndrom in jeder nur denkbaren (und oft auch undenkbaren) Art von Fernseh- und Reality-TV-Format zur Schau stellen, dann haben auch Menschen mit Behinderung das Recht, bei einem Format mitzumachen, das keine langweilig-seriöse Dokumentation über ihre erfolgreiche Eingliederung im Regelkindergarten ist, sondern eine unterhaltsame Reise mit meist hohem Spaßfaktor.

Das heißt: Es ist schon auch gut, dass es Formate wie „Down the Road“ gibt. Denn selbst, falls Szenen nun doch irgendwie vorgegeben waren oder Teilnehmerinnen teils überredet wurden – solche Formate zeigen im Endeffekt dann doch das, was Menschen mit Behinderung und ihre Angehörigen der Öffentlichkeit zeigen möchten:

Es ist egal, ob ein Mensch eine Behinderung hat. Denn uns allen fällt manches schwer, manches leicht. Manchmal geht es uns nicht so gut, manchmal müssen wir alle weinen. Wir lachen aber auch alle gern, und egal, ob mit Behinderung oder ohne: Menschen haben Freude am Leben.

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Großen Dank möchte ich an dieser Stelle aussprechen an die Head of Recherche & Fragenentwicklung, Doro. Ohne dich hätte alles mindestens doppelt so lange gedauert und ich hätte auch nur halb so viele Fragen an den SWR gehabt.

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Headerbild: © SWR/SEO Entertainment

Ein Gedanke zu „„Down the Road“: Eine Betrachtung

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